„Nichts über uns ohne uns!“, dafür streiten Behindertenbewegungen weltweit seit Ende der 1960er Jahre. Behinderte Menschen befreien sich zunehmend aus fremdbestimmender Fürsorge und fordern ihr Recht auf Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe ein. Zugrunde liegt ein verändertes Denken über Behinderung, das nicht mehr nach individuellem „Schicksal“, sondern nach Zugang und Rechten fragt. Unterstützt wird dies durch die 2008 in Kraft getretene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Auf Basis der Erkenntnisse der Behindertenbewegungen entstanden ab den frühen 1980er Jahren die Disability Studies. Ihr Kern ist ein Verständnis von Behinderung, das diese nicht mehr als naturgegebenes, überhistorisches Phänomen beschreibt, sondern als ein Konstrukt, das sich je nach Ansatz auf ein soziales, kulturelles oder menschenrechtliches Modell der Behinderung bezieht.
In den Disability Studies wird Behinderung als gesellschaftlich negativ bewertete körperliche Differenz verstanden, die im jeweiligen historischen und kulturellen Kontext betrachtet werden muss. Ihre Vertreter*innen eint die Kritik an einem verengten, rein medizinisch-pädagogischen und individualisierten Blick auf Behinderung. Die Disability Studies stellen damit einen Gegenentwurf zu traditionellen Forschungsansätzen wie etwa der Sonderpädagogik oder den Rehabilitationswissenschaften dar. Gegenstand der Disability Studies ist nicht „Behinderung an sich“, sondern die Konstruktion von Normalität aus dem Blickwinkel verschiedener Wissenschaftsdisziplinen.
Entstanden in den USA und in Großbritannien
In den USA gründeten 1982 behinderte Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen um den behinderten Medizinsoziologen Irving Kenneth Zola die ”Society for the Study of Chronic Illness, Impairment and Disability” (SSCIID), die sich 1986 in ”Society for Disability Studies” (SDS) umbenannte. Etwa zeitgleich fanden sich britische Forscher*innen mit Behinderungen um den ebenfalls behinderten Soziologen Mike Oliver an der Open University zusammen. Mike Oliver und Colin Barnes gründeten 1990 mit der Forschungsgruppe „Disability Research Unit” an der University of Leeds (DRU) das erste Institut für Disability Studies in Europa, das 2000 zum interdisziplinären „Centre for Disability Studies” (CDS) erweitert wurde.
Seither haben sich die Disability Studies zu einem eigenen Fachgebiet entwickelt, das u.a. in den USA, Kanada, Australien, Großbritannien, Irland, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden und Norwegen als Bestandteil von interdisziplinären Studiengängen an Universitäten und Colleges gelehrt wird. An einigen Hochschulen können Bachelor-, Master- oder PhD- Abschlüsse in den Disability Studies erworben werden. Daneben gibt es in vielen Ländern Zusammenschlüsse von Forscher*innen sowie Hochschulinstitute der Disability Studies.
Disability Studies in Deutschland und Österreich
In Deutschland war die Bezeichnung „Disability Studies” bis zum Jahr 2001 nahezu unbekannt. Gleichwohl wurden bereits seit Beginn der deutschen Behindertenbewegung „Disability Studies” betrieben: Zahlreiche Publikationen, die aus den Behindertenbewegungen in deutschsprachigen Ländern hervorgegangen sind, können rückblickend den Disability Studies zugeordnet werden.
Die institutionelle Etablierung schreitet in Deutschland bisher nicht so schnell voran wie im englischsprachigen Raum. Seit der Jahrtausendwende entstanden mehrere Professuren und Institute in Deutschland und Österreich mit direktem oder indirektem Bezug auf die Disability Studies, zum Beispiel in Köln, Bochum, Berlin, Bremen, Innsbruck, Hamburg, Hildesheim und Emden. Einen eigenen Abschluss in Disability Studies gibt es in Deutschland derzeit nicht, aber sie als können als Bestandteil verschiedener Studiengänge im Bereich der Sozial-, Kultur-, Geschichts-, Erziehungs- und Literaturwissenschaften studiert werden. In den letzten Jahren sind viele Disability Studies Forschende zusätzlich in der Teilhabeforschung aktiv.
Forschungsgegenstände
Nicht Beeinträchtigung als solche steht im Zentrum der Disability Studies, sondern die Bedeutungen, die ihr auf gesellschaftlicher, politischer und kultureller Ebene zugeschrieben werden und die sie für beeinträchtigte Menschen haben. Kern sind die gesellschaftlichen, ideologischen und diskursiven Bedingungen, die die Idee einer stabilen gesellschaftlichen Norm festschreiben und Beeinträchtigung als defizitäres „Andere“ überhaupt erst produzieren.
So können die Disability Studies vieles sein: Die Analyse ableistischer Praktiken und Diskurse, das Aufzeigen ausgrenzender Praxis im Rechtswesen, die Interpretation von stereotypen Bildern und Darstellungsweisen von behinderten Menschen in Kunst und Kultur, aber auch das Entwerfen von neuen Ideen für das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen, wie die Entwicklung von barrierefreiem, inklusiven Lebensraum oder einer für alle zugänglichen Leichten Sprache.
Wir forschen selbst
Für den transdisziplinären Ansatz der Disability Studies ist das Erfahrungswissen selbst von Behinderung betroffener Forscher*innen und außerakademischer Akteur*innen von besonderer Relevanz. Ein Schwerpunkt liegt auf partizipatorischen und qualitativen Forschungsansätzen. Wo in den Rehawissenschaften und in der Sonderpädagogik behinderte Menschen oft Objekte der Forschung sind, sollen sie in den Disability Studies als Subjekte ihre eigene Sicht in den Forschungsprozess einbringen.
Dazu gehört auch, dass die Akteur*innen der Disability Studies in erster Linie behinderte Menschen selbst sind – ähnlich wie beispielsweise Women und Gender Studies auch von Frauen* und die Queer Studies von queeren Menschen/LGBTI dominiert werden. Dies bedeutet jedoch nicht den Ausschluss Nichtbehinderter aus den Disability Studies. Das Ziel der Disability Studies ist, ein neues Denken über Behinderung weit zu verbreiten und nicht in einem exklusiven Kreis zu belassen. Dies bedeutet auch, dass sich alle Forscher*innen auf einen Zugang zu Behinderung im Sinne der Disability Studies verpflichten.